Der öffentliche Diskurs in deutschen Medien ist wie ein Brettspiel. Es gibt Regeln, die jeder Mitspieler zu beachten hat. Wer diese Regeln nicht kennt, darf nicht mitmachen, wer sie missachtet, wird ausgeschlossen. Diese Mechanismen sind so wirksam wie etabliert. Die letzten Monate zeigten jedoch, wie dabei eine personalisierte Empörung zur bestimmenden Form politischer Auseinandersetzung wird.
Als sich Außenminister Guido Westerwelle im März diesen Jahres zur sozialpolitischen Ausrichtung des Landes äußerte - nicht ohne dabei eine stattliche Verbalkeule zu schwingen - schwappten die Wogen in Reihen von Oppositionellen und Kommentatoren hoch. Dabei fand eine sachliche, inhaltliche Auseinandersetzung in der medialen Öffentlichkeit kaum statt. Vielmehr wurde der Polemik Westerwelles eine ebenso polemische und emotionale Empörungwelle entgegengehalten, die Anlass und Inhalt der umstrittenen Äußerungen - es ging um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts - in den Hintergrund drängte und sich klar nicht nur gegen die Äußerungen, sondern auch gegen die Person des Außenministers richtete.
Realitäten geschaffen
Die Kritik, die seinerzeit zu lesen und hören war, hielt sich lange an stilistischen Fragen auf, was in Anbetracht der Heftigkeit der Entrüstung unverhältnismäßig erscheint. Die Folgen dieses Diskurses indes waren ein Abrutschen der FDP in verschiedenen Umfragen auf heute 5% (Forsa) sowie ein massiver Imageschaden des Parteivorsitzenden, der auch die innerparteilichen Gewichte der Macht nachhaltig und zu seinen Ungunsten verschoben hat. Auch wenn somit unzweifelhaft Realitäten geschaffen wurden, wird es einigen Kritikern schwer fallen klar zu benennen, was konkret Westerwelle - abseits stilistischer Fragen - vorzuwerfen ist.
An diese Ereignisse des Frühlings also konnte man sich erinnert fühlen, wenn man Debatte der letzten Wochen verfolgte. Der Vorabdruck einiger Passagen des Buchs von Thilo Sarrazin fand bei Opposition und Journalie tosenden Widerspruch. Es hat dabei drei Wochen gebraucht, das bekannte Empörungsritual zu vollziehen. Erst jetzt merkt Renate Künast richtig an, man müsse sich "unabhängig" von derartigen aufgeregten Debatten "systematisch" mit Intgegrationspolitik befassen. Erst jetzt wird es selbst Medienprofis wie Gregor Gysi zu viel, der erkennt, dass Sarrazin in letzter Zeit "zu oft im Fernsehen" gewesen sei.
"Zu oft im Fernsehen"
Diesen Einsichten voraus ging eine merkwürdig hitzige Debatte über ein Buch, das noch nicht erschienen war, und dessen etwas unbeholfen wirkenden Author, die nahezu die gesamte öffentlichen Aufmerksamkeit zu binden schien. Inhaltliche Belange wurden dabei vielfach lediglich mit der allgemeinen Bemerkung abgetan, man wisse um die Probleme, um sich dann kleinteilig an durchaus vorhandenen Verfehlungen Sarrazins abzuarbeiten. Diese mangelnde Differenzierung ging dabei so weit, dass die zitierten Statistiken, die von Integrationsproblemen muslimischer Einwanderer zeugen, durch den Hinweis auf die Existenz entweder bildungsferner Deutscher oder aber positiver Integrationsbeispiele für irrelevant erklärt wurden, was als schlichte Leugnung von Tatsachen, bestenfalls als deren ideologische Relativierung angesehen werden kann.
Bestrebungen, mit der Diskreditierung der öffentlichen Person Sarrazin als Rassist die Debatte im Keim zu ersticken, scheiterten jedoch nicht zuletzt an großer Zustimmung aus der Bevölkerung, die sich anders - als seinerzeit bei Westerwelle - dieses Mal nicht von der vorgelebten Empörung anstecken ließ. Ob dieser Rückhalt sachlichen Abwägungen oder aber dem unguten Gefühl geschuldet ist, hier würden wie auch immer geartete Wahrheiten rhetorisch schlicht unterdrückt, sei dahingestellt. Eine sachliche Kritik an Sarrazins Thesen hätte diesen jedenfalls um sein fragwürdiges nun erlangtes Renommee als tapferer Vorkämpfer für die Wahrheit und gegen die Ideologen gebracht.
Empörung macht Politik
Fragt man jetzt, nachdem sich die Wogen wieder etwas gelegt haben, nach der Kritik an Sarrazin, hört man häufig den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Wieder steht dieser Vorwurf in keinem gesunden Verhältnis zur Reaktion auf den Bundesbänker, der auf politischen Druck hin sein Amt niederlegen musste und ein Parteiausschlussverfahren vor sich hat.
Empörung macht Politik. Diese Beobachtung führt zu der Frage, ob eine Emotionalisierung der kommerzialisierten politischen Debatte in diesem Land der Sache des öffentlichen Anliegens nicht langfristig schadet. Durch eine Fokussierung auf Personen statt auf Themen und auf Emotionen statt auf Argumente lässt sich Politik und Meinung möglicherweise besser verkaufen, worauf die Medien wie auch politische Parteien angewiesen sind. In der Sache bringt dies die Gesellschaft allerdings nicht weiter. Die endliche Ressource der öffentlichen Aufmerksamkeit wird so auf ein selbstreferenzielles Spiel der politischen und journalistischen Elite verschwendet - und notwendige Diskussionen gehen dabei unter.
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