Freitag, 1. Oktober 2010

Undemokratisch

Der Unmut über die herrschenden politischen Verhältnisse hat in Stuttgart und dem dort geplanten Projekt, Stuttgart 21, ein Ventil gefunden. Während sich über dessen Sinn oder Unsinn trefflich streiten lässt, ist die intentionale Eskalation und die damit verbundene Polemik des baden-württembergischen Innenministers Heribert Rech Ausdruck eines verkommenen Selbstverständnisses der Landesregierung.

Die Politik hat Kommunikationsproblem. Angesichts der großen Proteste gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs ist dies lediglich eine sachliche Feststellung. Gleichzeitig scheint hier auch der Kern des Problems zu liegen. Viele Bürger haben die von ihnen erlebte Unaufrichtigkeit der Politik sowie deren Nähe zu Akteuren aus der Wirtschaft satt. Der Fall Stuttgart 21 ist hier nur ein Beispiel, und hier findet die von einigen Medien herbeigeschriebene Politikverdrossenheit ihr Ventil.

Missverhältnis von Regierenden und Regierten

Bemerkenswert ist, dass nicht nur die üblichen Verdächtigen, also Autonome, Linke und Studenten, an den Demonstrationen teilnehmen, sondern dass der Protest ein solides Fundament im bürgerlichen Lager aufzuweisen hat. Während man dies als positives Signal einer zunehmend politisierten gesellschaftlichen Mitte begreifen könnte, zeigt sich, dass sich offenbar Teile der Bevölkerung nicht mehr legitim politisch vertreten sehen. Gerade unter diesem Aspekt ist die dabei Vielschichtigkeit des Protests durchaus besorgniserregend.

Das Empfinden eines Legitimationsdefizits, das viele Menschen auf die Straße treibt, zeigt sich auch darin, dass die Umsetzung des Stuttgarter Bauvorhabens vielfach als undemokratisch bezeichnet wird. Gleichzeitig wird diese unter Verwendung des Mittels des zivilen Ungehorsam behindert. Dass damit letztlich ein demokratisch legitimiertes Projekt durch den Willen eines wenn auch breiten Bündnisses von Menschen blockiert werden soll ist dabei selbst weit davon entfernt, demokratisch zu sein. Die Berufung auf Meinungsumfragen haben dabei in unserer parlamentarischen Demokratie kein institutionelles Gewicht. Diesen Widerspruch übersehen diejenigen Demonstranten, die sich selbst als Streiter für mehr Demokratie sehen wollen. In diesem Missverhältnis von Regierenden und Regierten zeigt sich mithin tatsächlich eine schleichende Erosion politischer Legitimität.

Gewalttätige Gegenreaktion provozieren

Die gestrige Eskalation der Proteste, denn als solche können die Vorkommnisse durchaus aufgefasst werden, stellt die Bewegung nun in ein neues Licht. Derartige Ausschreitungen erinnern an ein Deutschland der achtziger Jahre, das man längst überwunden wähnte. Das allen Augenzeugenberichten zufolge Unverhältnismäßige vorgehen der Polizei ist jedoch kein Zufall.

Die Ausstattung der Polizei, die mit Reizgas und Wasserwerfern vor fuhr, zeigt, dass ein hartes Durchgreifen offenbar geplant war. Einige Demonstranten waren darauf mit Plastikplanen und Regenschirmen auch vorbereitet. Der Polizeieinsatz soll, so ließe sich das Geschehene erklären, gewalttätige Gegenreaktionen provozieren. Dies würde der Landesregierung die Möglichkeit liefern, den bislang friedlichen Protest anhand einzelner Ausschreitungen insgesamt zu diskreditieren. Die Gegenbewegung würde dadurch deutlich geschwächt und in innere Konflikte getrieben, die ihre mediale Strahlkraft und damit auch ihre politische Relevanz beschädigen würden.

Polizeigewalt missbraucht

Träfe dies zu, hätte ein deutscher Innenminister Polizeigewalt als Mittel zur Durchsetzung nicht einer öffentlichen Ordnung, sondern eines politischen Ziels missbraucht. Ein solcher Vorgang wäre ungeheuerlich und müsste auch personelle Konsequenzen haben.

Ob sich diese schwerwiegenden Anschuldigungen halten lassen wird sich auch an der künftigen Rhetorik des Innenministeriums ablesen lassen. Etwaige Ausschreitungen seitens der Projektgegner politisch auszuschlachten könnte als Eingeständnis einer solchen Strategie gelten. Rech wäre gut beraten, von nun an deeskalierend zu wirken, um nicht gerade denen, die sich von einer entfremdeten und undemokratischen Elite beherrscht fühlen, nicht auf diese perfide Weise Recht zu geben.

Dienstag, 28. September 2010

Die Angst vor dem eigenen Markenkern

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht treibt die Regierung ein progressives Vorhaben voran. Wieso kommt eine solche Strukturreform ausgerechnet aus dem konservativen Lager?

Es scheint entschieden. Mit Horst Seehofer nimmt nun auch die Christlich Soziale Union von der Wehrpflicht Abstand. Für den bayrischen Ministerfürsten ist es nichts ungewöhnliches, seine Meinung entsprechend gefühlter Meinungstrends der Wählerschaft oder - wie in diesem Fall - das aktuelle Machtgefüge innerhalb der Regierung anerkennend radikal ins Gegenteil zu verkehren. Aber obwohl Seehofers sprunghaftes Verhältnis zur eigenen Überzeugung bekannt ist, lässt diese Entscheidung aufhorchen.

Ausgerechnet ein Verteidigungsminister aus Bayern

Die CSU verstand sich bislang als Partei der Bundeswehr. Zu diesem Verständnis gehörte auch, die Wehrpflicht als Säule der Verteidigungspolitik nicht zu hinterfragen. Nun ist es mit Karl Theodor zu Guttenberg ausgerechnet ein Verteidigungsminister aus Bayern, der die lange Tradition der Wehrpflicht auszusetzen und damit de facto abzuschaffen gedenkt. Dies ist auch deswegen bemerkenswert, da die Entscheidung von einer Regierung getroffen wird, der elf Jahre sozialdemokratische Regierungsbeteiligung voraus gingen. Von 1998 bis 2005 war zudem mit den Grünen eine Partei in der Regierungskoalition, die aus der Friedensbewegung hervorgegangen war. Wäre diese Zeit, wären diese Regierungen nicht prädestiniert gewesen für einen Schritt, der jetzt von den Konservativen vollzogen wird?

Die Strukturreform der Armee teilt in diesem Sinne ein Kuriosum mit der Neuausrichtung der bundesdeutschen Sozialpolitik unter der Regierung Schröder. Die sogenannte Agenda 2010, als deren Ziel neben dem Fördern auch explizit das Fordern herausgestellt wurde und für viele den Inbegriff neoliberaler Politik markiert, wurde seinerzeit nach 16 Jahren Stagnation unter Kohl ausgerechnet von den Sozialdemokraten durchgesetzt. Dabei sind neoliberale Ansichten sonst eher aus dem christlich-liberalen Lager zu vernehmen.

Von der "falschen" Partei durchgesetzt

Wie sehr sich die SPD an diesem Projekt verhoben hat, zeigten der darauf folgende Mitgliederschwund sowie die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl. Während sich die Partei unter dem Eindruck erlittener Verluste langsam daran begibt, beispielsweise durch die Neupositionierung zur Rente mit 67 ihre Regierungsarbeit in Frage zu stellen, verteidigt die heutige konservative Arbeitsministerin von der Leyen die Reform dessen, was unter dem Begriff Hartz IV verstanden wird mit einer beachtlichen Verve. Auch die Reform des Sozialstaats wurde also in diesem Sinne von der "falschen" Partei durchgesetzt.

Gemeinsam haben die Reform der Wehrpflicht sowie die Agenda 2010, dass es sich dabei um überfällige Strukturreformen handelt, die einem aus den äußeren Gegebenheiten folgenden Sachzwang Rechnung tragen - und dabei in die Tiefe gehen. Beide Fragen betreffen überdies die Menschen auf sehr direkte Weise.

Ideologische Gräben

Es hat den Anschein, als habe eine Regierung Schwierigkeiten damit, ureigene Themen auf diese tiefgreifende Weise zu bearbeiten. Die Ursache hierfür liegt möglicherweise in der Architektur unserer Parteiendemokratie. Setzte eine Partei ein Projekt um, dass dem eigenen Markenkern und der Tradition zu offensichtlich und weitreichend entspräche, würde dies alte Vorurteile bekräftigen. Infolge dessen wäre es der Opposition wäre ein Leichtes, ideologische Gräben aufzureißen und durch konfrontative und polarisierende Rhetorik die eigene Wählerschaft zu mobilisieren. Eine solche Steilvorlage - man kann dies an der aktuellen Atompolitik der Reigierung beobachten - beschert einer gut geführten Opposition einigen Zulauf. Die allgemeine Angst der Machthabenden vor Reformen würde verstärkt vor der Sorge, der Opposition neue und möglicherweise mächtige Waffen in die Hand zu legen.

Anders sieht es aus, wenn vermeintlich traditionsfremde Themen angegangen werden. Dies erscheint a priori in einem pragmatischeren Licht. Der Opposition verbleibt es, lediglich nüchterne Kritik an Detailfragen zu verüben, möchte sie nicht die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Derweil scheint die Sorge, die eigene Anhängerschaft zu verprellen vergleichsweise gering. Sachzwänge scheinen sich in einem solchen Rahmen zumindest leichter Bahn brechen zu können. Ironischerweise führt das dazu, dass Strukturreformen nicht immer von denen vorangetrieben werden, von denen man es erwartet hätte.

Sonntag, 12. September 2010

Kotau vor der Wirtschaft

Die Bundesregierung hat sich mit der Energiewirtschaft an einen Tisch gesetzt. Ob es angemessen ist, die Interessen des deutschen Volkes in direkten bilateralen Gesprächen mit der Wirtschaft zu verhandeln, darf bezweifelt werden.

Sind die Laufzeitverlängerungen richtig, sind sie es nicht? Diese Frage ist Gegenstand einer langen und konfrontativen Auseinandersetzung zwischen den Regierungs- und Oppositionsparteien, aber auch innerhalb der Koalition, die Bundeskanzlerin Merkel schließlich recht abrupt vergangenen Sonntag mit einem Papier zur zukünftigen Energiepolitik des Landes für beendet erklärt hat. Der Unfrieden im Kabinett kann der Regierungschefin nicht gefallen haben, ebenso wenig die große mobilisierende Kraft dieser Debatte. In dieser ist vielleicht der Grund dafür zu suchen, dass die Grünen Rekordergebnisse bei jüngsten Umfragen feiern.

Diese Frage also, ob vier, acht oder gar 20 Jahre, und - diese Option spielte bei einem von der Regierung angeforderten Gutachten gar keine Rolle - ob eine Verlängerung überhaupt notwendig oder sinnvoll ist, mag man nach besten Gewissen beantworten. Der Beschluss der Bundesregierung ist aus anderen Gründen frappierend.

Augenwischerei statt Transparenz

Der Atomwirtschaft wurden in direkten Verhandlungen auf Augenhöhe Verträge zugestanden, die auch nachfolgende Regierungen binden werden. Die nun öffentlich gewordenen Vertragsdetails zeigen deutlich, wie sehr die Regierung der Wirtschaft dabei entgegen gekommen ist. So sind die Kosten zur Anpassung der Kratftwerke an Sicherheitsstandards mit 500 Mio. Euro gedeckelt. Was darüber hinaus geht, geht zu lasten des sogenannten Ökofonds. Letztlich werden Sanierungen so auf den Steuerzahler abgewälzt. Auch haben sich die Atomkonzerne gegen eine Verlängerung oder Anhebung der Brennelementesteuer vertraglich abgesichert - und so nachfolgende Regierungen vor vollendete Tatsachen gestellt.

Gerade die Taschenspielertricks, mit denen die Beschlüsse zur Atompolitik geschönt werden, lassen einen ratlos zurück. So wird nach Regierungsangaben das Versprechen, 50% der durch die Laufzeitverlängerung erwirtschafteten Mehreinnahmen der Energiekonzerne abzuschöpfen, eingehalten. Diese Kalkulation fußt dabei auf konstant bleibenden Strompreisen - für die nächsten 14 Jahre. Alternative Berechnungen, die zu erwartende Strompreiserhöhungen mit einbeziehen, lassen vermuten, dass lediglich 28% der Gewinne abgeschöpft werden. Diese Augenwischerei steht im Widerspruch zur Transparenz, die Regierungssprecher Steffen Seibert trotz der zögerlichen Veröffentlichung der genauen Ausgestaltung des Vertrags für die Regierung in Anspruch nimmt.

Neue politisch-ökonomische Kultur

Sprechen für eine Laufzeitverlängerung bereits ausschließlich wirtschaftliche Gründe, verstärkt das Vorgehen der Bundesregierung nun zusätzlich den Eindruck, sie habe sich auf ein Pokerspiel eingelassen - und verloren. Ihr Gebaren ist - so oft dieser Satz auch als Phrase missbraucht wird - ein Kotau vor der Wirtschaft.

Es ist überdies nicht zu erklären, weshalb die Regierung der Energiewirtschaft bilaterale Verhandlungen anbietet, anderen und insbesondere weniger finanzstarken Konzernen jedoch nicht. Dieser Meinung ist im Übrigen auch die Pharmaindustrie, die derzeit im Kanzleramt Sturm klingelt. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Vorgehen nicht den Beginn einer neuen, politisch-ökonomischen Kultur markiert.

Gebotene Distanz zwischen Wirtschaft und Politik

Derartige vertraglichen Vereinbarungen zwischen Politik und Wirtschaft lassen die gebotene Distanz zwischen beiden klar vermissen. Es entsteht der Eindruck direkter Einflussnahme des Kapitals auf politische Entscheidungen. Die Unabhängigkeit politischer Entscheidungen von Einzelinteressen wird so in Zweifel gezogen. Die Energieriesen haben diesen Eindruck mit den geschalteten Anzeigen in den Printmedien selbst aufwändig vorbereitet und inszeniert.

Die Verhandlungen schädigen dadurch das Ansehen von Politik insgesamt; einer Politik, die ohnehin in Teilen der Bevölkerung mit dem - oftmals opportunen - Vorwurf zu kämpfen hat, Büttel von Wirtschaftslobbyisten zu sein. Diesen Bedenken wird nun Nahrung gegeben. Damit nimmt nicht nur das Vertrauen in politische Macht und Möglichkeiten nachhaltigen Schaden, sondern gleichsam die Legitimität und Stabilität unserer Demokratie.

Samstag, 11. September 2010

Empörungsrepublik

Der öffentliche Diskurs in deutschen Medien ist wie ein Brettspiel. Es gibt Regeln, die jeder Mitspieler zu beachten hat. Wer diese Regeln nicht kennt, darf nicht mitmachen, wer sie missachtet, wird ausgeschlossen. Diese Mechanismen sind so wirksam wie etabliert. Die letzten Monate zeigten jedoch, wie dabei eine personalisierte Empörung zur bestimmenden Form politischer Auseinandersetzung wird.

Als sich Außenminister Guido Westerwelle im März diesen Jahres zur sozialpolitischen Ausrichtung des Landes äußerte - nicht ohne dabei eine stattliche Verbalkeule zu schwingen - schwappten die Wogen in Reihen von Oppositionellen und Kommentatoren hoch. Dabei fand eine sachliche, inhaltliche Auseinandersetzung in der medialen Öffentlichkeit kaum statt. Vielmehr wurde der Polemik Westerwelles eine ebenso polemische und emotionale Empörungwelle entgegengehalten, die Anlass und Inhalt der umstrittenen Äußerungen - es ging um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts - in den Hintergrund drängte und sich klar nicht nur gegen die Äußerungen, sondern auch gegen die Person des Außenministers richtete.

Realitäten geschaffen

Die Kritik, die seinerzeit zu lesen und hören war, hielt sich lange an stilistischen Fragen auf, was in Anbetracht der Heftigkeit der Entrüstung unverhältnismäßig erscheint. Die Folgen dieses Diskurses indes waren ein Abrutschen der FDP in verschiedenen Umfragen auf heute 5% (Forsa) sowie ein massiver Imageschaden des Parteivorsitzenden, der auch die innerparteilichen Gewichte der Macht nachhaltig und zu seinen Ungunsten verschoben hat. Auch wenn somit unzweifelhaft Realitäten geschaffen wurden, wird es einigen Kritikern schwer fallen klar zu benennen, was konkret Westerwelle - abseits stilistischer Fragen - vorzuwerfen ist.

An diese Ereignisse des Frühlings also konnte man sich erinnert fühlen, wenn man Debatte der letzten Wochen verfolgte. Der Vorabdruck einiger Passagen des Buchs von Thilo Sarrazin fand bei Opposition und Journalie tosenden Widerspruch. Es hat dabei drei Wochen gebraucht, das bekannte Empörungsritual zu vollziehen. Erst jetzt merkt Renate Künast richtig an, man müsse sich "unabhängig" von derartigen aufgeregten Debatten "systematisch" mit Intgegrationspolitik befassen. Erst jetzt wird es selbst Medienprofis wie Gregor Gysi zu viel, der erkennt, dass Sarrazin in letzter Zeit "zu oft im Fernsehen" gewesen sei.

"Zu oft im Fernsehen"

Diesen Einsichten voraus ging eine merkwürdig hitzige Debatte über ein Buch, das noch nicht erschienen war, und dessen etwas unbeholfen wirkenden Author, die nahezu die gesamte öffentlichen Aufmerksamkeit zu binden schien. Inhaltliche Belange wurden dabei vielfach lediglich mit der allgemeinen Bemerkung abgetan, man wisse um die Probleme, um sich dann kleinteilig an durchaus vorhandenen Verfehlungen Sarrazins abzuarbeiten. Diese mangelnde Differenzierung ging dabei so weit, dass die zitierten Statistiken, die von Integrationsproblemen muslimischer Einwanderer zeugen, durch den Hinweis auf die Existenz entweder bildungsferner Deutscher oder aber positiver Integrationsbeispiele für irrelevant erklärt wurden, was als schlichte Leugnung von Tatsachen, bestenfalls als deren ideologische Relativierung angesehen werden kann.

Bestrebungen, mit der Diskreditierung der öffentlichen Person Sarrazin als Rassist die Debatte im Keim zu ersticken, scheiterten jedoch nicht zuletzt an großer Zustimmung aus der Bevölkerung, die sich anders - als seinerzeit bei Westerwelle - dieses Mal nicht von der vorgelebten Empörung anstecken ließ. Ob dieser Rückhalt sachlichen Abwägungen oder aber dem unguten Gefühl geschuldet ist, hier würden wie auch immer geartete Wahrheiten rhetorisch schlicht unterdrückt, sei dahingestellt. Eine sachliche Kritik an Sarrazins Thesen hätte diesen jedenfalls um sein fragwürdiges nun erlangtes Renommee als tapferer Vorkämpfer für die Wahrheit und gegen die Ideologen gebracht.

Empörung macht Politik

Fragt man jetzt, nachdem sich die Wogen wieder etwas gelegt haben, nach der Kritik an Sarrazin, hört man häufig den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Wieder steht dieser Vorwurf in keinem gesunden Verhältnis zur Reaktion auf den Bundesbänker, der auf politischen Druck hin sein Amt niederlegen musste und ein Parteiausschlussverfahren vor sich hat.

Empörung macht Politik. Diese Beobachtung führt zu der Frage, ob eine Emotionalisierung der kommerzialisierten politischen Debatte in diesem Land der Sache des öffentlichen Anliegens nicht langfristig schadet. Durch eine Fokussierung auf Personen statt auf Themen und auf Emotionen statt auf Argumente lässt sich Politik und Meinung möglicherweise besser verkaufen, worauf die Medien wie auch politische Parteien angewiesen sind. In der Sache bringt dies die Gesellschaft allerdings nicht weiter. Die endliche Ressource der öffentlichen Aufmerksamkeit wird so auf ein selbstreferenzielles Spiel der politischen und journalistischen Elite verschwendet - und notwendige Diskussionen gehen dabei unter.